Wie man einen Wahl-O-Maten bastelt – Erfahrungsbericht
TL;DR!
Ein Haufen junger Menschen und Politikwissenschaftler synthetisieren aus den Parteiprogrammen 80 kurze, prägnante Thesen. Die Parteien nehmen dazu Stellung. Davon landen dann 32 Thesen, mit denen sich die Parteien am besten abgrenzen, im endgültigen Wahl-O-Maten.
Präludium
Wenn Klausuren anstehen, neige ich schnell dazu, mich auf jede erdenkliche Ablenkung zu stürzen. Und so kam es, dass am 12.01.2022 folgender Newsletter in mein E-Mail-Postfach flatterte:
Wahl-O-Mat:
Workshop zur Erstellung der Thesen für den Wahl-O-Mat Nordrhein-Westfalen 2022
18.-20.02.2022
Erstelle die Thesen des Wahl-O-Mat Nordrhein-Westfalen 2022! Wir suchen junge Menschen aus Nordrhein-Westfalen zwischen 18 und 26 Jahren für den Workshop vom 18. bis 20. Februar 2022.
https://www.bpb.de/343584
Okay. Warum nicht? Man kann sich bewerben, wenn man mitmachen möchte. Die Anforderungen kann ich so weit erfüllen:
Du solltest zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen wahlberechtigt und am Wahltag maximal 26 Jahre alt sein. Da der Wahl-O-Mat überparteilich ist, darfst Du jedoch keine besondere Position oder Aufgabe in einer politischen Partei haben (z.B. regionale oder überregionale Funktion, Mandat, Kandidatur).
Meine Bewerbung wurde dann einige Wochen später auch angenommen:
[…]
herzlichen Dank für Ihr Interesse an einer Mitarbeit im Redaktionsteam des Wahl-O-Mats zur Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2022. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass wir Ihnen gerne einen Platz im Redaktionsteam anbieten wollen.
[…]
Nun hatte sich leider auch zu diesem Zeitpunkt die globale Covid-19-Pandemie nicht in Luft aufgelöst. Meine Hoffnung, mich auf Kosten des Landes ein Wochenende lang in einem Tagungshotel verwöhnen zu lassen, schmolz endgültig dahin, als ich die Einwahldaten für ein Zoom-Video-Meeting zugeschickt bekam.
In einem vorbereitendem Zoom-Meeting am 14.02.2022 saßen dann 32 Menschen zu Hause vor ihren Bildschirmen und schauten sich freundlich an.
Etwa die Hälfte davon waren Beschäftigte der Bundes- oder Landeszentrale für politische Bildung, Sozial- und Politikwissenschaftler:innen umliegender Universitäten oder Journalisten. Experten und alte Hasen, die teils seit Anfang an den Wahl-O-Maten gestalten.
Die andere Hälfte bestand aus den 18 „jungen Menschen“.
Bei der Vorstellungsrunde wurde bald klar: Die Einladung, beim Workshop mitzuwirken, erreicht ein relativ bestimmtes Klientel: Politisch interessierte Menschen, die fast alle entweder Sozialwissenschaften oder Politik studieren oder in dem Feld eine Ausbildung machen.
Die Organisatoren stellten uns schon etwas Material zur Verfügung, als Hausaufgabe für den Workshop am Wochenende.
Das beinhaltete eine Übersicht über die Parteien, die erwartbar zur Landtagswahl antreten wollen und eine Auswertung der Parteiprogramme. Man hatte diese durchgewälzt und Forderungen und Versprechen extrahiert. Doppelungen mit anderen Parteien wurden hervorgehoben. Ohne diese Vorarbeit wäre der Workshop sehr anstrengend geworden.
Zusätzlich wurden wir in fünf Themengebiete eingeteilt:
- Arbeit, Wirtschaft und Finanzen
- Inneres, Justiz, Demokratie und Föderalismus
- Bildung und Familie
- Soziales, Wohnen, Gesundheit, Kultur, Migration und Freizeit
- Umwelt, Energie, Verkehr und Infrastruktur
In den Gruppen waren jeweils 4-5 junge Menschen, sowie 3 erfahrene Köpfe aus Zentrale und Wissenschaft eingeteilt:
Zwischen Montag und Freitag habe ich mir also die Partei-Meinungen zu Arbeit, Wirtschaft und Finanzen durchgelesen und schon mal überlegt, welche Themen man vielleicht zu Thesen verarbeiten könnte.
Der eigentliche Workshop
Von Freitag, dem 18.02. bis Sonntag, den 20.02.2022 fand dann der eigentliche Thesenworkshop statt.
Freitag fanden wir uns in unserer Themengruppe zusammen, und brainstormten Themen aus den Programmen:
[Da nicht sicher ist, welche Thesen nachher im Wahl-O-Maten landen, darf ich die Workshop-Fassungen hier nicht veröffentlichen]
Erst mal nur Themen nennen und gruppieren. Duplikate wieder rausfiltern.
Danach für alle Teilgruppen eine Präsentation mit dem Titel „Gute Thesen, schlechte Thesen“. Professor Marschall zeigt, wie wir aus unseren Themen sinnvolle Thesen synthetisieren sollen.
Seine Kriterien für eine gute These:
- Die These spricht ein relevantes Thema an.
- Mit der These kann jede und jeder etwas anfangen. Die These ist verständlich. Man kann sie ohne Vorwissen begreifen.
- Die These behandelt ein landespolitisches Thema.
- Die These ist charakteristisch für ein Parteilager; die Parteien positionieren sich unterschiedlich zu dieser These.
- Die These regt zur Stellungnahme an. Die These provoziert.
- Die These verbindet nicht zwei Themen miteinander.
- Die These sollte keine (umstrittene) Prognose enthalten.
- Die These ist kurz und konkret. Nur ein Satz!
- Die These beinhaltet möglichst keine konkreten Zahlen und keine Verneinung.
- Die These ist sachlich und sprachlich korrekt.
Mit diesem Wissen geht es dann daran, Thesen zu formulieren. Freitag und Samstag verbringen wir größtenteils damit, aus unseren Themen „gute“ Thesen zu bauen.
Zwischendurch schauen wir mal bei den anderen Gruppen vorbei. Geben Feedback zu deren Themen und Thesen. Weisen auf Dopplungen mit unserem Bereich hin.
Zwischen Freitag uns Samstag korrigieren die Profis noch ein paar kleinere Probleme mit den Thesen.
Am Samstag-Abend haben wir dann für unseren Bereich, „Arbeit, Wirtschaft und Finanzen“, unsere Top-10 der Thesen fertig. Diese sollen auf jeden Fall den Parteien vorgelegt werden.
Mit allen Gruppen haben wir so 50 Thesen erledigt. Da der Plan allerdings vorsieht, 80 Thesen an die Parteien zu schicken, müssen noch 30 weitere her.
Am Sonntag werden daher in der großen Runde aus den verbleibenden Thesen aller Gruppen noch die 30 beliebtesten Thesen per Voting bestimmt.
Zack. Fertig. 80 mehr oder weniger gute Thesen.
Man bedankt sich bei uns für die Teilnahme. Fragt, wie wir es fanden. Und erklärt den weiteren Ablauf:
- Die Thesen werden noch mal von der Bundeszentrale auf Fakten, Rechtschreibung und Formulierung geprüft.
- Die Parteien bekommen dann etwa drei Wochen Zeit, zu allen Thesen Stellung zu nehmen. Sie dürfen dabei keine überspringen, sonst landen sie nicht im Wahl-O-Maten.
- Die Rückläufer werden dann noch mal auf Konsistenz und Sinnhaftigkeit geprüft. Sollten Antworten seltsam aussehen, bekommen die Parteien noch einmal die Gelegenheit ihre Antworten anzupassen oder so zu lassen.
- Im April will man sich dann noch einmal mit uns, den „jungen Leuten“ treffen. Aus 80 Thesen müssen dann 38 für den Wahl-O-Maten werden. Hier müssen Thesen rausfliegen, die zu wenig zwischen den Parteien unterscheiden. „Welt verbessern“ finden alle toll, damit kann man keine Wahl-Entscheidung treffen.
Es wird sich verabschiedet. Wir drücken auf den roten Knopf, das Zoom-Fenster geht zu.
Quellen
- Banner: Wahl-O-Mat: Bundeszentrale für politische Bildung
- Gute Thesen, schlechte Thesen: Prof. Dr. Stefan Marschall